Lechwehr

Geschichtsunterricht aus erster Hand

Zu einer außergewöhnlichen Geschichtsstunde empfing Oberbürgermeisterin Doris Baumgartl den Holocaustüberlebenden Abba Naor, Vizepräsident des Internationalen Dachau Komitees. „Im Kratzer Keller hat man mir mein Leben wieder geschenkt“ begann dieser seinen Bericht über die Zeit nach der Befreiung im DP-Lager Landsberg. Bereits vor einigen Wochen hatte sich ein kleiner Kreis um Karl Freller, Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, in München getroffen. Hintergrund waren Überlegungen, wie man die Interessen des Investors in Einklang mit den Bemühungen um einen authentischen Ort der Erinnerungs- und Gedenkkultur bringt. Die im Badischen beheimatete GEM-Gruppe hatte das seit Jahren leerstehende Gebäude, das zwischenzeitlich unter Denkmalschutz gestellt wurde, erworben. Auf dem Areal in der Katharinenvorstadt plant sie ein attraktives, lebendiges Ensemble, das aus Gastronomie, Biergarten, Kinderspielplatz und Wohnungen bestehen soll.  
Der 95-jährige Abba Naor schilderte, wie er vom Kratzer Keller aus als Mitglied der im Untergrund arbeitenden Haganah seinerzeit illegale Operationen für die Einwanderung in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina mitvorbereitete. Ihr Ziel: die Gründung eines eigenen Staates – Eretz Israel. Dass dieser Staat 75 Jahre nach seiner Gründung mit dem terroristischen Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 wie nie zuvor in Gefahr ist, führte er eindrücklich aus und unterstrich damit auch die gegenwärtige Bedeutung des Kratzer Kellers. Zuvor hatte die Journalistin Karla Schönebeck darüber informiert, dass der seinerzeit in Landsberg gegründete Kinder- und Jugendkibbuz Lohamei Hageta`ot und das aus überlebenden Mitgliedern des Aufstands im Warschauer Ghetto bestehende Ghetto Fighters House in Israel nach 1949 neu etabliert worden waren. Die Stadt Landsberg am Lech bemüht sich daher um eine Kooperation und hatte dazu eine Delegationsreise nach Israel geplant. Diese musste leider aufgrund der aktuellen Ereignisse verschoben werden.

Beeindruckt und überrascht zugleich zeigte sich Abba Naor von der Präsentation von Felix I. Müller und Roland Beckert, die für die GEM-Gruppe darlegten, wie jüngere Zeitgeschichte mit neuen, frischen Ideen in den laufenden Betrieb eines kommerziellen Unternehmens integriert werden könnte. Dass sie durchaus in die Überlegungen der Stadt Landsberg passen, bestätigte Claudia Weißbrodt. Die Leiterin des städtischen Kulturbüros Leiterin ordnete die zukünftige, zentrale Informations- und Orientierungsrolle des Stadtmuseums im Verhältnis zu authentischen Erinnerungsorten wie dem Kratzer Keller ein, an denen die Geschichte des Nationalsozialismus und seinen Folgen unmittelbar erlebbar gemacht werden soll.

Da Abba Naor seit seiner Auswanderung 1947 die Räumlichkeiten im Kratzer Keller nicht mehr gesehen hatte, begleiteten ihn anschließend unter anderem Ulrich Fritz, Leiter des Büros des Antisemitismusbeauftragten der Bayerischen Staatsregierung, Alex Dorow, der mit Karla Schönebeck Vorstand des Fördervereins Liberation Concerts ist, sowie Dr. Jascha März von der Stiftung Bayerische Gedenkstätten an den schicksalhaften Ort seiner Jugend. An vieles konnte er sich erinnern, wie an die ehemalige Küche, den Speisesaal oder die Bühne, auf der regelmäßig diskutiert, getanzt und gesungen wurde. „Es hat sich doch einiges verändert,“ stellte er fest. Dass sich ein Investor für lange zurückliegende Ereignisse interessiere und für sie einsetze, das, so Abba Naor, sei „die absolute Ausnahme“.  Einig war man sich nach diesem Treffen auch darin, sich in der kommenden Zeit eng miteinander auszutauschen. Wenn alles planmäßig laufe, beantworte Roland Beckert die Frage Abba Naors nach der Inbetriebnahme, „können wir 2025 beginnen.“ Dann wäre einer der letzten heute noch lebenden Zeitzeugen fast einhundert Jahre alt. Naor kommentierte dies mit einem trockenen Schmunzeln und wünschte dem Projekt viel Erfolg.